02 Ankunft in Sao Paulo

Wer Brasilien liebt, hat Mut zum Chaos. Aber es lohnt sich, gibt es doch nicht nur ein aufregendes Land, so groß wie ein Kontinent, mit unendlich vielen verschiedenen Facetten zu entdecken, sondern auch eine Lebensart, die einen die eigene zumindest überdenken läßt. Die Regel Nummer 1 sollte für jeden Brasilienreisenden sein: spätestens beim Verlassen des Flugzeugs alle Kabel ziehen, alle europäischen Maßstäbe vergessen, und gaaanz locker bleiben!

Die erste Übung muss der geneigte Fremde bereits am Flughafen Guarulhos bestehen: Diesmal war es die vermasselte Freude auf´s Aussteigen nach dem langen Eingequetschtsein im Flieger. Denn nach der Landung hieß es Warten auf einen Parkplatz auf dem überfüllten Flughafen, sprich: Eine weitere halbe Stunde mit Gurt im Sitz. Dann endlose Wege, drei riesige Terminals. Wenn mehrere Flugzeuge gleichzeitig ankommen, kann man schon mal anderthalb Stunden in der Schlange zur Passkontrolle stehen. Was nicht heißt, dass nicht trotzdem an einigen Schaltern in aller Gemütsruhe Anfänger eingearbeitet werden, die dreimal so lange brauchen wie die geduldig und gelangweilt danebensitzenden erfahrenen Kollegen, die keinerlei Veranlassung zum Eingreifen sehen. In der Vorhalle empfängt einen dann ein riesiges Gewimmel von Ankommenden, Abreisenden, Abholern, Kofferträgern und allen möglichen anderen Wimmel-Gestalten. Wer ein Taxi will, ist erstaunlich gut dran, denn es gibt zwei Schalter, die die Gebühren im Voraus nach Liste berechnen, man ist also geschützt vor Betrug, nicht aber davor, dass der Taxifahrer die Gegend nicht kennt, wo man hin will, sich hoffnungslos im Moloch Sao Paulo verfährt und mühsam durchfragen muss. Und das kann bei dem verrückten Einbahnstrassensystem der Stadt ein böses Verhängnis sein. Ein sehr zeitaufwändiges… Und nichts schützt einen vor dem täglichen Verkehrskollaps, in dem gar nichts mehr geht. Verläßt man die klimatisierten Hallen, schlägt einem eine Welle aus Hitze und Abgasen entgegen und man sollte aufpassen, nicht von einheimischen Reisenden mit hochbeladenen Gepäckkarren brutal angefahren zu werden. Und natürlich niemals das Gepäck auch nur eine Minute aus den Augen lassen! Umgeben sind die Flughafen-Gebäude von mehreren gigantischen Parkplätzen, die nicht zu unterscheiden sind. Ich erinnere mich, dass uns einmal ein Freund abgeholt hat, wir aber gemeinsam samt Gepäck-Karren eine dreiviertel Stunde auf den verschiedenen Parkplätzen herumgeirrt sind, auf der Suche nach dem Auto.

In vielem ist Brasilien das Land der Extreme, nicht nur wegen seiner Größe und der damit verbundenen Entfernungen. Hier ist es so gar nichts besonderes, wenn ein Student täglich 3 Stunden mit dem Bus über Land zur Uni fährt und dann auch wieder zurück, das ist fast noch „dichte bei“. Bereits der Landeanflug über Sao Paulo, läßt mich jedes Mal wieder in Ungläubigkeit staunen: Die Super-Metropole, deren Einwohnerzahl nicht mehr wirklich zu zählen ist, die aber wohl tatsächlich um die 20 Millionen liegen dürfte, scheint bei Überflug einfach kein Ende zu nehmen. Aus der Luft erkennt man noch die ursprüngliche Regenwald-Landschaft mit Bergen und Flußtälern, doch nur hier und da hat es die Natur geschafft, der menschlichen Siedlungswut zu widerstehen und ragt trotzig in Form von Felsen oder grünen Bergkuppen aus dem Steinkoloss Sao Paulo auf. Vor allem im Sommer rächt sich Mutter Natur auf ihre Weise an dieser Vergewaltigung: Nachdem tagsüber sengende Hitze in den Straßen herrscht, brauen sich fast täglich am Nachmittag gigantische Wolkenberge zusammen und laden ihre Fracht in sturzflugartigen Regengüssen über der Stadt ab, die es versäumt hat entsprechende Abflussmöglichkeiten für die Wassermassen zu schaffen und Beton saugt bekanntlich schlecht auf…So sind Überschwemmungen an der Tagesordnung, die in Europa Schlagzeilen machen würden. Ich habe schon tonnenschwere Schleusendeckel auf Wasserfontänen hochsteigen sehen.

Darüberhinaus aber ist Sao Paulo eine faszinierende Stadt. Nicht im Sinne von schön, aber aufregend. Nirgends auf der Welt habe ich soviele Wolkenkratzer gesehen wie hier. Gigantische Bauwerke, deren Architekten sich in Sachen Phantasie mehr ausgetobt haben, als alle europäischen Architekturstudenten sich zu träumen trauen (einheitliche Stadtplanung – was ist das? ), will sagen, ist längst nicht alles schön, aber spannend und phantasievoll. Hier ein Hhochhaus im Barockstil, da futuristische Gebilde in Stahl uns Glas, dort ein zweites Haus auf dem Hochhaus mit Palmendach und immer so weiter. Aber anders als in good old Europe oder Nordamerika gibt es eben keine reinen Hochhausviertel, überall stehen dazwischen kleine Häuser bis hin zum kuscheligen Einfamilienhaus oder einer halbverschimmelten Kate. Verrückte Anblicke!

Zu den schönsten Überraschungen des Molochs gehören die wunderbaren Parks, die nicht nur erstaunlich gepflegt sind (was angesichts des teilweise fast verfallenen, rotten Zustandes der Straßen und Häuser einigermaßen irritierend ist), sondern sie sind einmalig, weil sie oft ein Stück echter Dschungel sind : wunderschöne, kühle Oasen inmitten dieser Superzivilisation. Mitten im Häusermeer steht man plötzlich in einem völlig entrückten Stück Natur unter mehrere hundert Jahre alten Bäumen mit Lianen, tropischen Blüten und Früchten und Vogelgesang!

Doch der eigentliche Wahnsinn sind die Menschen, die krassen Unterschiede, der gelebte Wahnsinn: unvorstellbare Armut neben unvorstellbarem Reichtum. Die Oberschicht, die aus Angst vor Überfällen und Entführungen vom Dach ihres Hochhauses mit dem Helikopter zum Shoppen oder Arbeiten fliegt und die Menschen, die seit Generationen in den endlosen Favelas oder unter den Autobahnbrücken leben, wo sie sich teilweise sogar richtige Zimmer aus Sperrmüll eingerichtethaben, und die inzwischen in einer solchen Agonie leben, das die einfachsten Dinge nicht mehr möglich sind – dazu gehört auch ein normaler Tagesablauf oder etwa regelmäßige, sinnvolle Tätigkeit. Menschen, die sich und ihre Wäsche nach den Regengüssen neben dem fließenden Verkehr im Rinnstein waschen. Es wäre ein extra Kapitel nötig, wollte ich das hier weiterausführen. Nicht dass es in Europa nicht auch traurige Zustände und Obdachlose gibt, aber gegen das Ausmaß der Armut hier, ist das nichts.

Wer das Gewimmel in den Strassen mit europäischen Augen sieht, wird fast schwindlig: Tausende irgedwohineilender Menschen, Strassenhändler, Musiker, Künstler, Bettler, immer wieder Polizei, spielende Kinder und eben die Obdachlosen. Dagegen sind Berlin, London, Rom gemütliche Orte. Aber dennoch ist es so spannend all das zu beobachten, dass ich Tage damit verbringen könnte, einfach nur zu schauen, ohne irgend etwas anderes zu tun. Man setze sich zum Beispiel auf die wunderschöne alte Praza da Sé (den historischen, palmenbestandenen, mosaikgepflasterten Platz mit der St. Peterskatedrale), den wuseligen Platz República oder den zentralen Platz im japanisch dominierten Viertel Liberdade, bestelle sich einen der phantastischen frischen Fruchtsäfte aus Maracujá, Ananas, Mango oder anderen Früchten, die man bis dahin nicht mal dem Namen nach kannte, (man vergesse bei der Bestellung nicht, ausdrücklich wenig Zucker zu bestellen, alles andere ähnelt Sirup), futtere dazu eine Coxinha (frittierter Kartoffelteig mit Huhn gefüllt), ein Pao de Qeixo (ein Käsegebäck) oder ein Pastel (eine knusprige gefüllte, frittierte Teigtasche) und halte einfach nur die Augen offen.

Nach Einbruch der Dunkelheit sollte man allerdings besser im Restaurant, Hotel oder anderswo abtauchen und sich bei Entfernungen über mehr als 500 Meter nur noch im Taxi durch die Stadt bewegen, denn ja, Sao Paulo ist eine sehr gefährliche Stadt. Teile davon, in erster Linie die riesigen Favelas, die Armenviertel, sind für Fremde absolute No-Go-Areas. Daran sollte man sich halten. Aber andereseits haben wir die Erfahrung gemacht, dass „unauffällig angepasst“ am besten fährt, will sagen, wenn man sich schlicht kleidet, sich selbstverständlich, ohne Fotos zu machen oder staunend um sich zu blicken durch die Stadt bewegt, ist man relativ sicher und kann vieles machen. Je selbstsicherer, desto besser. Des öfteren allerdings sieht man Touristen, die sich ebenso gut gleich ein Schild mit der Aufschrift „Bitte Ausrauben!“ umhängen könnten: im schicken „Wir fahren in die Tropen“ -Marken-Outfit, mit der Kamera um den Hals, dicken Armbanduhren usw. Sie blicken mit Zooblick auf alles, weichen ängstlich jedem ärmeren Einheimischen aus, schüttelnd entsetzt oder gutmenschenhaft ob der Umstände den Kopf. Das mag nicht nett formuliert sein, trifft aber leider auf einen Teil der Touristen hier zu.

Ein unbedingtes Muss für Entdecker dieser Stadt, nicht aber für Ängstliche, ist die berühmteste Einkaufsstrasse von Sao Paulo, die „25 do Marzo“ – sprich: „Vientschi-sinco“. Hier kaufen vorallem kleine Gewerbetreibende aber auch Privatleute ein, hier werden in den oberen Stockwerken der 2- bis zehnstöckigen Häuser auch größere diskrete Geschäfte abgewickelt. Hier gibts alles vom Stoffen, Kleidung, Elektronikartikeln bis zu Küchenutensilien, Schmuck oder feiner Unterwäsche – nicht zu vergessen: ganze Passagen, die ausschliesslich gefälschte Markenartikel anbieten, das ist hier offenbar salonfähig. Vor einigen Jahren war diese circa einen Kilometer lange Strasse noch irrsinniger, als auf der Strasse selbst, zwischen den tausenden sich hin- und herschiebenden Käufern noch hunderte fliegender Händler ungestört ihre Waren verkauft haben. Die Zustände waren allerdings nicht mehr haltbar und in Sachen Kriminalität extrem gefährlich, so dass diese Händler jetzt verboten sind und an jeder Strassenecke feste Polizeiposten gebaut wurden. Trotzdem geht der Handel –etwas eingeschränkt- weiter, allerdings gibt es ungefähr alle Stunde Razzien: rennende Schwarzhändler und in Garnisonsstärke auflaufende schwerbewaffnete Polizisten in kugelsicheren Westen. Kaum sind die 50m weg, sind die ersten Händler wieder da. Das gelebte Chaos.

Nicht versäumen sollte man einen Besuch der alten Markthalle in einer der Nebenstraßen. Hierher kommen vorallem Besucher der Stadt, aber es lohnt sich: Der Mercado Municipal Paulista ist traditionell ein Zentrum für Gourmets: Stände mit farbenfrohen Pyramiden der unglaublichsten Früchte aus ganz Brasilien. Fleisch und Wurstwaren, Käse, Gewürze. Und Ess-Stände mit leckeren Spezialitäten. Einfach ein Fest für die Augen und den Magen.

Geschichten und Eindrücke aus Sao Paulo könnten ein ganzes Buch füllen, dies sind nur Kostproben. Es gibt unglaublich viel zu entdecken von Kunst bis Sport und Kommerz; wir waren schon einige Male dort und haben nur an der Oberfläche gekratzt. Eeune Stadt, die einen auf den ersten Blick erschlägt, die mir Angst gemacht hat, und von der ich inzwischen nicht lassen kann. Allerdings ist diese Stadt so anstrengend, dass sich nach einigen Tagen doch eine Art Fluchteffekt einstellt. Die Sehnsucht nach Ruhe und Durchatmen – zwei Dinge, die es hier nicht gibt.

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