Bis jetzt habe ich die wichtigsten Geschichten und Orte dieser Reise immer in einzelne Kapitel unterteilt. Aber irgendwie ist dabei eine Menge übriggeblieben, was ich nicht erzählt habe. Bevor ich nun zum letzten Kapitel komme, werde ich einfach mal eine Runde „Schnipsel“ einlegen, die irgendwie auch zu meinen brasilianischen Reminiszenzen gehören.
Zuerst eins der großen Rätsel: Die Zeit. Warum schafft man hier eigentlich nie annähernd das, was man machen wollte? Und das nicht nur, weil man Urlaub hat und keine Eile…Eines der Geheimnisse, was mir dieses Land aufgibt. Dass mitteleuropäische Planung und Effizienz hier auf verlorenen Posten ist, das ist klar und irgendwie auch gut so, wie ein bekannter Berliner so sagt…Aber das ist noch keine Erklärung dafür, warum man selbst bei anderer Sozialisation und gelegentlicher (schon auch mal deutlicher) Genervtheit ob der landesüblichen Planungsunmöglichkeit nicht in der Lage ist, seine eigenen Aktivitäten irgendwie zu strukturieren und auch nur halbwegs das zu machen, was man sich vorgenommen hat. Und ich spreche hier nicht etwa von der sporadischen, chaotischen Art, meinen Blog zu schreiben. Nein, diese Lebensart saugt einen irgendwie mit ein.
Selbst meine Freundin Corrin, Amerikanerin, die seit 30 Jahren hier lebt, aber trotzdem immer noch etwas „anders“ tickt und die bei aller Symphatie für Brasilien regelmässig im Kreis springt, ob der sich endlos hinziehenden Dinge des Alltags, der Langsamkeit, der chaotischen Gangart – selbst die ist überhaupt nur noch selten in der Lage, irgendwas schnell und wie geplant zu machen. So hat sie bei unserer gemeinsame Abreise nach Paraty, beim Frühstück noch darauf gedrungen, möglichst schnell loszufahren. Gegen Mittag waren WIR zumindest abfahrbereit ( undbitte fragt nicht, was wir so lange gemacht haben!). Aber nichts da, auf einmal fielen Corrin noch tausend Sachen ein, die in ihrem Restaurant usw zu erledigen waren – obwohl sie den ganzen Vormittag nichts groß zu tun hatte! Letztendlich sind wir dann schon ein Stück vorgefahren und haben uns an einem schönen Strand 20km weiter die Zeit vertrieben, bis sie endlich nachkam. Abgefahren sind wir alle dann halb fünf…Und das ist nur eins der Beispiele.
Es wird ständig geredet, geplant, verworfen, vergessen, vertrödelt…das klingt sicher völlig schrecklich für den deutschen Durchschnittsleser, aber hier ist das einfach so, und man hört ziemlich schnell auf, sich darüber aufzuregen.
Corrins Kühlschrank klingt seit unserer Ankunft phasenweise wie ein Flugzeugtriebwerk – irgendwas ist da so gar nicht in Ordnung. Der Monteur wohnt 10 Minuten entfernt und sagt ständig, dass er kommt –unser Monat ist um, und der Kühlschrank fliegt immer noch durch´s Haus.
Anderes Beispiel: Ich habe mich mit einem der engagierten Mitstreiter eines superinteressanten sozialen Projektes für Kinder aus den armen Familien, einem bekannten brasilianischen Chefkoch, für ein Interview verabredet. Ich bin ihm den halben Tag lang geduldig gefolgt, weil immer etwas dazwischen kam. In der 2stündigen Mittagspause sollte es nun so weit sein. Er wolle nur noch duschen, ich soll doch eben das Interview mit dem Initiator den Projektes vorziehen…tja, dann war der Typ plötzlich weg! Nach Sao Sebastiao gefahren, was erledigen. Ohne auch nur was zu sagen. Aber das ist kein Grund zum sauer sein, er fühlte sich auch gar nicht schuldig, als er mir drei Stunden später fröhlich lachend sagte, dass er doch noch schnell weg musste. Alles ganz normal. Das Interview fand schließlich weitere zweieinhalb Stunden später statt. Hat doch geklappt – irgendwie. So what?…
Eine Bekannte hat ihr Auto im Dezember zur Reparatur gebracht es sollte zwei bis drei Wochen dauern. Jetzt ist Anfang April– die Kiste steht immer noch in der Werkstatt. Usw usf.
Manchmal frage ich mich ehrlich, wie das alles trotzallem noch funktionieren kann und irgendwie ja nicht mal schlecht, denn Brasilien ist ein echtes Wirtschaftsboomland auf der Schwelle zur Ersten Welt. Aber im Alltag herrscht einfach ein riesiges, alles aufsaugenden Chaos. Uff, das klingt wahrscheinlich jetzt furchtbar deutsch und arrogant, aber es ist wirklich so! Und die Brasilianer selbst sehen das so und sagen es auch,machen Witze über sich selbst, klagen, aber es ändert sich nichts daran. Und ein Stück weit ist das wirklich eine heilsame Kur für den effizienzgeschädigten Deutschen. Motto: es geht auch anders und man muss sich wirklich nicht immer über jeden Kleinkram aufregen. Aber andererseits ist diese Unangestrengtheit wirklich manchmal sehr anstrengend!
Verabredungen sind eine Wissenschaft für sich. Da gibt es etliche Geheimcodes, die es zu deuten gilt und selbst dann ist nichts sicher. Ein „Vielleicht“ ist ein ganz klares „Nein“. Ein „tá bom!“ (ok) oder „Claro“ könnte als vielleicht gedeutet werden. „Wir müssen uns mal treffen“ ist eine blanke Floskel, wenn es nicht mit einer konkreten Verabredung verbunden ist. Und so kann man auch bei Leuten, die man nicht wirklich treffen möchte, ruhig freundlich zustimmen – eben solange es nicht konkret terminiert wird, meint das eh keiner. Ein „certo“ (sicher) oder „combinado“ (abgemacht) hat echte Chancen auf Umsetzung. Allerdings nur, wenn dazu ein fester Tag und eine feste Zeit verabredet sind. Diese allerdings werden unter keinen Umständen genau eingehalten – Verspätungen bis zu mehreren Stunden sind normal, da zuckt hier keiner. Allzu pünktlich, genauer gesagt auf die Minute oder gar zu früh, kommt man besser nicht, damit rechnet niemand. Wenn man allerdings jemanden zum Essen nach Hause einlädt, sollte man immer ein paar Portionen mehr kochen, denn es ist absolut verbreitet, dass noch Leute mitgebracht werden.