14 Das Projecto Buscapé

Bildung ist in Brasilien immer noch das große Problem. Zumindest, wenn man keine reiche Eltern hat, die Privatschulen und Universitäten bezahlen können. Die öffentlichen Schulen haben nicht mal Platz für alle, obwohl sie hier im Staat Sao Paulo z.b., der einer der wohlhabendsten ist, im Zweischichtsystem unterrichten: Vormittags und Nachmittags. Und das jeweils nur vier Stunden, egal, ob erste oder sechste Klasse., mehr Unterricht gibt es nicht.

Viele der Kinder aus den Favelas, wie die Armenviertel hier heissen, haben wirklich kaum eine Chance. Zumal die Familien selbst meist das grösste Problem sind: Alkohol, Drogen, über Generationen Lethargie und womöglich noch Gewalt. Sie lernen die einfachsten Dinge nicht wie normales Sozialverhalten, geschweige denn, dass sie irgendwie motiviert werden, zu lernen oder etwas vom Leben zu erwarten. Es ist wirklich ein sehr, sehr großes Problem.

Umso beeindruckter war ich, als mich Corrin zu einem Projekt mitgenommen hat, an dem sie einmal wöchentlich mitarbeitet, natürlich ehrenamtlich und sogar mehr – sie bringt jedesmal das Material mit. Es heißt Projecto Buscapé und wurde von einem Militärpolizisten auf die Beine gestellt, der selbst aus solchen Verhältnissen kommt. Er will so die Kinder von der Strasse holen und vor der üblichen kleinkriminellen Karriere abbringen, im besten Falle auf eine Ausbildung vorbereiten. Er konnte die Militärpolizei als Schirmherrn und Ausrichter gewinnen, so dass er einen überdachten Raum hinter dem Reviergebäude und einen weiteren kleinen Raum sowie die Sporthalle der Militärpolizei nutzen darf – und einen Teil seiner Arbeitszeit. Das Projekt findet an fünf Tagen die Woche statt – ebenfalls in zwei Schichten – eben wenn die Kids zwischen 7 und 14 Jahren nicht Schule haben.

Insgesamt können immer 140 Kinder aufgenommen werden, viel weniger als Bewerber. Sie müssen sich verpflichten, immer zu erscheinen und auch in der Schule ordentliche Noten zu schaffen (oder zumindest es versuchen) – beim 3. unentschuldigten Fehlen fliegen sie raus. Das klingt hart, aber anders geht das nicht. Jeden Tag findet etwas anderes statt: einmal die Woche wird gekocht. Diesen Kurs betreut ein inzwischen landesweit berühmter Koch, der selbst hier mit 13 Geschwistern, ohne Strom und in purer Armut aufgewachsen ist. Er kommt extra aus Sao Paulo und opfert seinen freien Tag. Ich habe mir das zweimal angeschaut: beeindruckend. Es geht weniger um die Kochrezepte als um das Öfnen der Tür in eine andere Welt, die sie gar nicht kennen: Man kann auch anderes als Reis und Bohnen essen, wie spricht man mit anderen, wie benimmt man sich, wie behandelt man Gäste, wie stellt man sich vor usw.

An den anderen Tagen ginbt es Musikunterricht, Theater, Kunst, viel Sport und Aufklärung über Drogen.

Anfang und Ende der täglichen Kurse und eine Art Fahnenappell in militärischer Form. Mit Singen der Hymne usw. Das wirkt erst etwas befremdlich, macht aber Sinn, weil die Kids so eine Ahnung von Disziplin und Zugehörigkeitsgefühl bekommen. Sie werden respektiert und sind Mitglieder der brasilianischen Gesellschaft. Aber ausser so wichtigen Dingen wie Disziplin, Respekt voreinander, Verantwortungsgefühl, Zusammenarbeit und Anerkennung erfahren sie auch ganz viel Zuwendung: alle Kinder werden immer mit einer Umarmung verabschiedet und dürfen auch die Gäste (bzw eine Art Gastprofessoren), die immer mal einen Kurs übernehmen, umarmen. Ihr glaubt nicht, was da los geht! Ich war an drei Tagen zu Besuch – am dritten Tag sind etliche schon auf mich zugestürzt, bevor ich richtig da war, sind an mir hochgesprungen, haben mich gedrückt, geküsst und angestrahlt!

Es ist ein sehr beeindruckendes Projekt, das inzwischen drei Nachahmerprojekte in den Nachbarorten hat. Es läuft seit 5 Jahren und es haben bereits 1000 Kinder durchlaufen. Vom Staat bekommen sie ganz kleine finanzielle Unterstützungen zwischen 25 und 50 Euro im Monat für das ganze Projekt (!), der Rest sind Spenden und ehrenamtliche Arbeit. Nicht zu vergessen die Preisgelder, die sie manchmal in sportliche Wettkämpfen von Judo bis Fussball heimbringen. Vor Ostern haben alle Kinder ein Schokoladenosterei und einen großen Bonbon bekommen – die waren völlig aus dem Häuschen! So eine Freude!

Außerdem geht die Arbeit noch über das Projekt selbst hinaus: da Cabo William, der Initiator, der täglich mitarbeitet, alle Kinder einzeln kennt und auch die Familien, bei Problemen hingeht usw, ist ein Vertrauensverhältnis entstanden und die Familien wenden sich auch mit anderen Problemen an ihn. Er hilft ihnen weiter – mit anderen Behörden usw. Leute, die sonst niemals „Offizielle“ um Hilfe bitten würden, haben so plötzlich einen Ansprechpartner.

Ich war jedenfalls so beeindruckt, dass mein inzwischen etwas ermüdetetes Journalistenblut förmlich gekocht hat – deshalb bin ich auch wieder hingegangen, habe zugeschaut, Interviews und Fotos gemacht. Mal sehen, ob ich das in Deutschland unterbringen kann. Ich hoffe, ich kann etwas tun – und wenn´s nur anerkennende Aufmerksamkeit ist. Am liebsten würde ich eine Dokumentation drehen, wenn ich Geldgeber finde.

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