Napoli – das klingt immer ein bisschen … besonders: ein bisschen nach Pizza, Wein, Tarantella, Romantik, Kriminalität, Fussball, Kunst, Katholizismus und jeder Menge Geschichte . Namen wie Ruggero Leoncavallo, Enrico Caruso, Sophia Loren, Bud Spencer – ganz abgesehen von all den anderen Gelehrten, Klerikern und Architekten und Künstlern, die hier über die Jahrhunderte gelebt haben. Und der Name Diego Maradona … doch davon später. Auf alle Fälle hatte „Napoli“ für mich immer eine gewisse Magie. Zeit also herauszufinden, was es damit tatsächlich auf sich hat.
Und ich bin auch ein bisschen glücklich, einer besonderen Erinnerung aus meiner Bücherwurm-Kindheit nachzufühlen: Der Schriftsteller Kurt Held hat mit seinen Kinderbüchern „Giuseppe“ und „Giuseppe und Maria“ eine bleibende Spur in meiner Erinnerung hinterlassen mit der ebenso spannenden wie ergreifenden Kindheitsgeschichte im Napoli der Nachkriegszeit.
Also auf nach Napoli! Einerseits, um meine Italienisch-Kenntnisse endlich wieder etwas zu erweitern in einem Intensivsprachkurs an der sehr empfehlenswerten Sprachschule Centro Italiano, andererseits, um eine knappe Woche Zeit zu haben, diese Stadt endlich kennenzulernen.
Wir erreichen die Stadt am frühen Sonntagmorgen mit einem eher unbequemen Liegewagen im Nachtzug der italienischen Eisenbahngesellschaft trenitalia. Nach einem Marsch durch die großzügigen unterirdischen Gänge des Hauptbahnhofs Neapel an der Piazza Garibaldi landen wir endlich auf dem richtigen Metro-Bahnsteig tief unter der Stadt. Das riesige Bahnhofsareal ist ein Labyrinth aus Bahnsteigzugängen, Geschäften, Imbissen und Kunstinstallationen. Das Besondere an einigen Metro-Stationen in Neapel ist, dass Künstler sie als Projektionsfläche und Ausstellungsraum für farbenfreudige Installationen und Lichtinstallationen nutzen durften, was den sonst öden Charakter solcher Orte um ein Vielfaches zum Besseren wandelt. Über endlose Rolltreppen kommen wir endlich tief unten zum U-Bahnsteig der Station Napoli Garibaldi.
An der Station Dante steigen wir aus und bekommen einen ersten Eindruck auf einer großen Piazza mit einem beeindruckenden Palazzo und einer riesigen Statue von Dante Alighieri, am westlichen Rand der Altstadt. Allerdings wird dieser erste Eindruck der beeindruckenden historischen Kulisse etwas gestört durch ein Militärfahrzeug mitten auf dem Platz und fünf schwer bewaffneten Soldaten. Bis vor einigen Jahren hatte Neapel ein gravierendes Sicherheitsproblem und damit auch eins für den Tourismus. Daran hat man heftig gearbeitet, sichtbares Symbol sind die strategisch verteilten Militärposten, zusätzlich von den Streifen der Carabinieri und der Polizia Municipale ergänzt.
Müde, aber neugierig zerren wir unser Gepäck durch die mit großen, unebenen, im Lauf der Jahrhunderte glattgetretenen Steinplatten gepflasterten Gassen der Altstadt. Vorsicht und ein Auge am Boden ist zu empfehlen, denn es kann schon mal ein solcher Steinblock fehlen oder sich gedreht haben und Unaufmerksamkeit kann den Läufer teuer zu stehen kommen.
Was für eine tolle Kulisse! Auch so früh am Sonntagmorgen – oder gerade – denn die Touristen schlafen noch, ein paar Geschäftsinhaber räumen in ihren Läden herum, die Straßenfeger versuchen der Massen von Müll in den Straßen Herr zu werden, Hunde werden Gassi geführt, die ersten Bars sind schon offen. Eine Bar ist hier in Italien eine wichtige Einrichtung: Anders als ihr Name sind Bars kleine Cafés, in denen man – oft im Stehen an der Theke – frühstückt, d.h. seinen Espresso oder Cappuccino trinkt und ein süßes Cornetto (Croissant) isst, bevor der Tag anfängt. Kein noch so kleiner Ort in Italien ohne eine solche Bar.
Diese Stadt sieht genauso aus, wie man sie sich vorstellt: enge, gewundene Gassen mit dem Flair längst vergangener Zeiten. Hohe Pallazzi zu beiden Seiten, an vielen Fenstern hängt tatsächlich die Wäsche zum trocknen über der Straße, wie man es aus all den Filmen und Bildern kennt. Bäume sind eher seltener, meist nur schattenspendend an den kleinen Plätzen am Ende der Straßen oder vor den schier unzähligen kleinen und großen Kirchen. Geschichte quillt aus jeder Mauerritze. Und doch überall die Klarstellung des Hier und Heute: Graffiti, Street Art, Skulpturen.
Via San Giovanni Maggiore Pignatelli, unsere Adresse für die nächsten fünf Nächte. Ein kleines Apartment im Quartiere San Giuseppe. Wie alle dieser Palazzi hat auch dieses hohe fünfstöckige alte Haus eine eher etwas düstere Fassade und ein sehr massives Tor mit einer eingelassenen kleinen Tür mit dickem Schloss. Wir wohnen im Seitenflügel, die Wand zum Hof ist halb offen, Mauersteine liegen blank, sieht nach Baustelle aus, ist aber eher ein Dauerzustand. Ein Drahtkäfig bildet den offenen Metallfahrstuhl-Schacht für die winzige Kabine. Nichts für deutsche TÜV-Fans … Das kleine Apartment – Teil einer größeren Wohnung – ist sauber und freundlich, hat außer viel Platz alles, was man für ein paar Tage braucht, sogar einen winzigen Balkon, an dem ich an den folgenden Abenden meine Hausaufgaben für die Sprachschule machen werde – vor oder nach dem Wein zum Abendessen …
Das aber ist etwas vorgegriffen, denn zunächst werfen wir das Gepäck im Flur ab, da wir erst am Nachmittag unser Zimmer beziehen können. Müde, aber begeistert schleppen wir uns die nächsten sechs Stunden durch die wunderbare Altstadt. Enge und weniger enge Straßen und Gassen, die nur selten einen engen Bürgersteig haben, manchmal einen Farbstrich, der den Fussgängern ein gewissen Vorrecht einräumen soll.
Aber egal, alles ist eng und Autos, Motorroller und Fußgänger rangeln sich auf beängstigender Nähe aneinander vorbei. Meine anfängliche leichte Panik lässt schnell nach, als ich zu meiner anhaltenden Verwunderung erlebe, dass es kaum irgendwelche Machtkämpfe, Zusammenstöße oder gar Verletzte gibt. Undenkbar für meinen deutschen Erfahrungshintergrund: Die Autofahrer halten selbst an großen Hauptstraßen, wenn ein Fußgänger sich anschickt, die Straße zu betreten. Wenn man verwirrt und unsicher schaut, wird man freundlich und leicht ungeduldig über die Straße gewinkt. Die Rollerfahrer, oft ohne Helm und mit großen Taschen oder eingeklemmten Kindern unterwegs, schlängeln sich gekonnt an den Passanten vorbei. Gelebtes Chaos mit gegenseitiger Rücksichtnahme ….
Wir spazieren durch die Altstadt zur Piazza Santa Maria La Nuova neben der gleichnamigen Kirche und gönnen uns ein echt italienisches Frühstück im Ba-Bar Caffé, das gerade aufgemacht hat. Leckerer Cappuccino und das landesübliche Cornetto mit Pudding und Marmelade gefüllt. Sonst mag ich kein süsses Frühstück, aber hier passt´s. Ein paar Touristen mit Rollköfferchen rumpeln über die Piazza, Napolitaner auf dem Weg zur Arbeit, Straßenkehrer.
Gestärkt machen wir uns auf zur ersten Entdeckungstour auf der anderen Seite der Via Monteoliveto, einer großen Hauptstraße, die die Viertel trennt. Die Via Toledo, ein Boulevard mit unzähligen Mode-, Schuh- und Technikgeschäften und Restaurants begrenzt das Spanische Viertel – das bekannte und von Touristen überrannte Quartiere Spagnoli mit seinen langen engen Gassen, förmlich tapeziert mit dem Konterfei des „Santo“ Diego Maradona, des argentinischen Fußballgottes, der von 1984 bis 1991 hier gelebt und den SSC Napoli zum Ruhm gekickt hat. Es ist schlicht unmöglich, in ein Schaufenster, auf ein Graffiti, in ein Restaurant oder überhaupt irgendwohin zu schauen, ohne dass Santo Diego einen anstarrt: als Fussballer, König, Jesus Christus oder was auch immer … Sogar die Gerichte auf den Speisekarten sind nach ihm benannt!
Darüber hinaus ist es ein wunderbares altes Viertel mit den schon bekannten hohen alten Häusern, die die engen Gassen zur Schlucht werden lassen, kleinen Plätzen mit Cafés und Geschäften. An einem etwas größeren werden frischer Fisch und Meeresfrüchte verkauft. Gleich daneben Gewürze, Blumen, Stoffe und glitzernder Modeschmuck. Aber überall sind auch genauso viele Einheimische unterwegs wie Touristen. Insofern ist das Quartiere zwar ein Touristen-Magnet, aber kein Disneyland wie oft andernorts zu finden.
Allerdings ist das Schlendern nicht ungefährlich: Ständig muss man auf seine Füße achten, denn die Gassen bestehen aus eben jenen großen unebenen Steinblöcken und -platten, plötzlich ein paar Stufen oder einfach einem Loch, wo die Steine fehlen.
Über die Toledo kommen wir zurück in unser Ausgangsviertel um die Staccanapoli. Inzwischen so müde, dass wir kaum noch aus den Augen schauen können, lassen wir uns die rummelige, überfüllte Trasse quer durch die Altstadt entlang treiben, vorbei an Bars, Geschäften jeder Art mit kleinen, aber liebevoll gestalteten Schaufenstern. Erfrischend, dass man kaum die ewig gleichen Ladenketten findet. Viele kleine Modegeschäfte, unzählige Schmuck- und Souvenirläden und natürlich Bistros, Bars und Lebensmittelläden, die weniger für den täglichen Bedarf gedacht sind, sondern eher für besondere Gewürze, Pasta, Backwaren, Alkoholika und napolitanische Spezialitäten. Auch hier immer wieder das siegestrunkene Gesicht des Fussballgottes.
Schließlich erreichen wir die Piazza del Gesú Nuovo. Ein großer offener Platz in dessen Mitte der Obelisco dell’Immacolata mit einer Marienfigur auf der Spitze thront. Direkt davor ertönen seltsame Klänge, zwei Straßenmusiker spielen auf selbstgebauten Instrumenten aus alten Plastikrohren. Straßenhändler, Geschäfte und Restaurants begrenzen den Platz.
An einer Seite fällt eine seltsame hohe Fassade aus dunklem Lavagestein mit merkwürdigen Zeichen auf. Doch ein Blick nach oben trifft Giebel und Kreuz – es ist die Chiesa del Gesú Nuovo. Als ich die Kirche betrete, muss ich einmal tief durchatmen angesichts von Größe und Pracht. Die 1470 vom Architekten Novello da San Lucano erbaute Kirche gilt als eine der schönsten Barockkirchen Italiens. Zurecht. Egal wo lang man schaut, überall blickt man auf neue Seitenaltäre, großformatige Gemälde, Skulpturen …
Wie ich später nachlese, beziehen sich viele Darstellungen auf den später heilig gesprochenen Arzt Giuseppe Moscati (1880-1927), zu dem die Napolitaner noch heute um Kindersegen und die Heilung von Krankheiten beten.
Die riesige Kirche ist einfach so prächtig und wunderschön, dass man sich einfach nur hinsetzen und um sich schauen möchte. Im Mittelschiff ist gerade ein Messe im Gange, es wird viel gesungen. Der Altar ist strahlend golden und so reich, dass man kaum alles wahrnimmt. An den Seitengängen heilige Gräber, Gemälde, Statuen… es erschlägt einen fast. Inzwischen sind wir so übermüdet, dass wir uns in eine hintere Reise setzen und die Augen schließen, der Gesang und die Orgel dazu … wie das ausgeht, kann man sich denken…
Ein wenig erfrischt, begeistert, wenn auch immer noch nicht gläubig, verlassen wir die Kirche und verbringen die nächste Stunde -bis wir in unser Zimmer dürfen- bei Spaghetti Carbonara und anschliessendem Espresso in einem Straßencafé. Dann endlich: Eine Handy-Nachricht erlöst uns mit der Mitteilung, dass wir unser Zimmer schon eine Stunde vorfristig beziehen können …
Wie heißt eigentlich Mittagsschlaf auf Italienisch??? Pisolino pomeridiano!