Als Kreuzung aus passionierten Globetrottern und Marathonläufern der Spaßfraktion liegt uns nichts näher als die Welt auch laufend zu erobern. Nun also im Land der Cowboys. Unserem Ruf als Chaosfamilie machen wir aber auch dieses Mal wieder alle Ehre: Ich bin zwei Tage vor dem Abflug übel gestürzt und habe mir eine Rippe sehr schmerzhaft … geprellt? angebrochen? Schlimmeres? Ich will es lieber gar nicht wissen, auch nicht, was das für unser Vorhaben bedeuten könnte. Also alles denkbar Hilfreiche von Homöopathie bis chemische Bombe eingepackt und tapfer los. Nicht falsch bewegen, nicht tief atmen, nicht husten. Aber schließlich will mich Miki, mein Mann, nun doch nicht so ganz allein leiden lassen und legt einen Gepäckwagenrodeo auf dem Flughafen Houston hin, in dessen Folge sein Ringfinger zu doppelter Stärke anschwillt und sich tiefblau verfärbt. Zusätzlich hatte ich das Sturmbeutelchen mit den Medikamenten auf dem Londoner Flughafenklo liegenlassen! Sollten wir uns vielleicht besser als disabled runners ummelden?
Ein vorsichtiger Testlauf zwei Tage vor dem Großereignis aber lässt mir einen Stein vom Herzen fallen und ermutigt mich: Es geht nicht toll, aber es geht. Zudem meint es mein Schutzengel gut mit uns und führt uns zum wahrscheinlich einzigen Edelsupermarkt von San Antonio, der sogar Arnica und Beinwellsalbe führt – wow! Also: Start frei!
Der Countdown für einen Marathon beginnt ja immer schon ein bis zwei Tage vorher mit der Marathonmesse und der Abholung der Startunterlagen. Das ist der Moment, wenn meine Adrenalinproduktion so langsam anläuft. Also machen wir uns auf zum Convention Center. Alles riesig hier, Johnny Cash begrüßt uns lautstark akustisch mit „Walk the line“ – wie nett. Zumal ich den guten alten Johnny auf ganz besondere Weise kennenlernen durfte. Bei seinem letzten Berlin-Konzert wurde vom Management ein von mir erbetenes Interview abgelehnt. Aber ich erwischte ihn per Zufall am Zaun backstage und er bot mir einen Deal an: in 30 Minuten mit einer großen Portion Snickers, die ihm seine Frau strikt verboten hat. Ich erinnere mich mit Vergnügen an den engen Wohnwagen, den schmatzenden und plaudernden Johnny. Der liebe Gott – oder wer auch immer- sei seiner Seele gnädig. Also: Wenn das kein guter Auftakt für diesen Marathon unter erschwerten Bedingungen ist!
Wir werden mit T-Shirt und Startnummer versorgt und wandeln euphorisiert durch die Messehallen, wo jede Menge Sportbekleidung und Zeugs verkauft wird, das eigentlich niemand braucht. Wir lassen uns sogar hinreißen, ein typisch amerikanisches Gratisphoto mit albernen Kopfbedeckungen vor einer Fotowand von The Alamo zu machen! Auf einem Bildschirm läuft im Zeitraffer die Strecke ab – nach fünf Sekunden wende ich entsetzt den Blick ab: Was ich da gesehen habe, war eine endlose breite Straße ohne Bäume und Häuser, huh!
Zurück im Motel erwartet uns eine Mail des Veranstalters, die vor einem heißen Renntag warnt: immer schön langsam, aufhören, wenn´s zuviel wird. An der Strecke werden zusätzliche Salzrationen für das Wasser ausgeteilt und crushed ice, es gibt Duschen und Kältebusse. Man ist gewarnt: Im Vorjahr hat es ein oder zwei Tote gegeben, je nachdem, wen man fragt … oh, oh!
Fünf Uhr, der Wecker, das Handy und die Rezeption klingeln. Nötig wär´s nicht gewesen, wir haben vor Nervosität nur wenig geschlafen und ich bin längst wach. Miki macht sich auf dem Weg, um zwei starke Capuccini aufzutreiben (ohne bin ich kein Mensch) und ich bereite auf Styropor und Plaste Obstsalat und Sandwiches zu. Danach ist Auzsrüstungscheck und Kriegsbemalung. Bei soviel Patriotismus (heute ist auch noch Veteran´s Day!) können wir nun auch nicht umhin, ein symbolisches „Proud to come from good old Europe´s Germany“ farblich entgegenzusetzen. Wenigstens auf den Armen, Miki sogar im Gesicht. Er sieht aus wie ein durchgeknallter oller Indianerhäuptling. Was die USA nicht alles an seltsamen Reaktionen auslöst!
Abmarsch! Plötzlich trippeln von allen Seiten Ameisenkolonien Richtung Convention Center und die morgendliche Stille wird plötzlich vom aufgeregten Pfeifen der Verkehrspolizisten erfüllt, die die Läufer über die Straßen zum Startgebiet schleusen. Die Luft vibriert vor Energie. Am Start ist alles perfekt organisiert: 25 UPS-Busse warten, militärisch im 45 Grad Winkel ausgerichtet, auf unsre Kleiderbeutel, aufgeregte Helfer wuseln herum, kleine Reden werden gehalten. Dann –live von einer Countrysängerin vorgetragen- die Hymne. Basecaps werden vom Kopf gerissen, tausende Hände auf´s Herz gelegt – mann-o-mann! Dann gehts los.
Die Blöcke werden nach und nach gestartet, unsere Startmusik ist „Eye of the tiger“. Übrigens sind wir totale Exoten, bis auf ein paar Mexikaner und Kolombianer scheinen wir fast die einzigen Ausländer zu sein. Wir laufen im wörtlichen Sinne zunächst der Sonne entgegen, bereits nach 500 Metern sind wir schweißnass. Nach kurzer Zeit stellen wir fest, wie schlecht trainiert hier einige sind: Sie keuchen, haben Wadenkrämpfe. Irgendwie haben die wohl mit dem hier obligatorischen positiv thinking gemeint: Yes, we can! – sich aber nicht wirklich überlegt, worauf sie sich eingelassen haben.
Die ersten Bands spielen am am Straßenrand auf, vor einer kleinen Bretterkirche trommelt ein Rastaman-Priester zum Gott der Läufer. Die ersten 17 km führen durch greater downtown – vorbei am Alamo und durch einige nette, aber ganz schön hügelige Wohnviertel. Die Anzahl der Zuschauer hält sich in Grenzen, aber es ist trotzem sehr nett und ich bin stolz auf mich, weil ich mich schon etwas orientieren kann. Wir haben beschlossen, es ganz ruhig anzugehen, zu genießen und Fotos zu machen – und unbedingt zusammenzulaufen. Das kostet uns viel Zeit, denn wir haben uns ein paar mal verloren – die Rechnung sollen wir später präsentiert bekommen, wenn´s in die Zeit schießt und unesre Körper die Kraft verlieren. Aber davon wissen wir jetzt noch nichts und sind bester Laune.
Vor den unzähligen Kirchen steht jeweils die sonntägliche Gemeinde und winkt den Läufern zu. Das erste Mal, dass ich der hiesigen Kirchenschwemme etwas Gutes abgewinnen kann. In einem hübschen, bescheidenen Mittelstandsviertel mit Gärtchen stehen zwei schüchterne Männer mit bunten Lockenperücken und Glitzerschlips vor ihrem Haus und halten tapfer ein Transparent hoch: Run for the gay´s pride – irgendwie rührend in dieser Umgebung. Ein Stück weiter begrüßt uns ein überdimensionaler Cowboy von einem Dach. Dies und andere Kuriositäten lenken die laufenden und teilweise bereits schlurfenden Teilnehmer von der zunehmenden Hitze ab. Viele sehen gar nicht mehr gut aus, dabei ist noch nicht mal das Halbmarathon-Ziel in Sicht. Wie wollen die das schaffen? Kurz vor dem Halbmarathon-Split durchqueren wir noch ein besonders schönes Viertel mit malerischen Südstaatenvillen und ausladenden alten Eichen: King William. Hier haben die vor langer Zeit eingewanderten Deutschen der Stadt ihren Stempel aufgedrückt. Die Sehnsucht nach der alten Heimat hat wohl den ollen Kaiser Wilhelm Namenspate werden lassen.
Km 17: Die Halbmarathonis werden abgeleitet. Die wahren Kämpfer bleiben und sehen einer Feuerprobe entgegen –im wahrsten Sinne des Wortes. Wir durchqueren ein Flussbiotop und dann wird´s einsam. Aber zunächst gibt´s das erste crushed ice. Würd´ ich normalerweise nicht an meinen Körper lassen beim Laufen, aber jetzt schiebe ich es mir dankbar überall hin: ins T-Shirt, unter das Stirnband – mittlerweile ist die Hitze wirklich kaum noch auszuhalten. Salz als Wasserzugabe wird verteilt, Duschen sprudeln über die Straße, die ersten Kältebusse stehen am Straßenrand.
Linker Hand erstrecken sich nun endlose Golfplätze, rechts, als passendes Pendent dazu, heruntergekommene Wohnwagenparks für die Armen. Aber immerhin sitzen einige von den Bewohnern mit einer Dose Bier am Straßenrand und leisten uns Gesellschaft. Bis auf gelegentliche Cheerleadertrupps und ein paar Bands alle paar Meilen sind das fast die letzten menschlichen Wesen, die wir für die nächste Zeit zu sehen bekommen sollen. Die Strecke führt über endlosen Asphalt vorbei an riesigen memorial fields (Riesenfriedhöfen, die bis auf kleine Fähnchen im Boden seltsam den Golfplätzen ähneln), einem Flughafen, der airbase, einer Raffinerie, einem Kraftwerk und einfach nur Pampa. Inzwischen trottet ein großer Teil der Läufer mehr als zu laufen, langsam schwant mir Böses und die Kräfte verlassen mich, der Kopf dröhnt.
Bei Meile 18, irgendwo im Nirgendwo stolpere ich in einen Kältebus. Hier begrüßt mich ein junger Asiate, der quer auf einer Bank liegt, mit der Erklärung: „Das ist der Punkt, an dem ich mich frage: Was, zur Hölle, mache ich hier?!“ I agree. Nach zehn Minuten gehts mir besser und ich laufe wieder los. Nachdem ich allerdings unvernünftigerweise einen endlosen Anstieg an einer Raffinerie in den Abgasen der hier ausnahmsweise parallel fahrenden Autos absolviert habe, wird mir übel und schwindlig. Mein Magen krampft. Ich versuche, mich im Schatten eines mikrigen Busches zu erholen und laufe dann irgendwie weiter. Miki versucht mich zum Essen eines Früchteriegels zu überreden, ich kriege nichts herunter. Auch Miki quält sich nur noch. Ein paar Meter weiter läuft plötzlich ein Sanitäter neben mir, der sich Sorgen macht. Ich bin wohl ein bisschen blass um die Nase. Aber ich überzeuge ihn, tapfer lächelnd, von meiner Renntauglichkeit; so leicht gebe ich nicht auf! Aber eigentlich will ich nur noch in ein kaltes, dunkles Zimmer … Doch nicht ohne diese verdammte Medaille! Das sei übrigens unbedingt noch angemerkt: Die medical teams sind in Garnisonsstärke angetreten und sie sind sehr aufmerksam!
Den Rest der Strecke nehme ich nur noch als Füße auf dem Asphalt wahr. Einziges Geräusch sind die tappelnden oder schlurfenden Schritte der anderen und keuchender Atem. Immer wieder kauern erschöpfte Gestalten am Straßenrand. Die schnellen Superathleten sind längst im Ziel, aber der Masse bleiben noch etliche Kilometer. Endlich sind wieder ein paar mehr Bands zu sehen: Meilensteine. Ausgerechnet in der langen Einsamkeit der Südkurve haben einige schon keine große Lust mehr gezeigt, Blödmänner! Auf den letzten drei Meilen in der Stadt versuchen uns u.a. Highschool-Kids mit Spalieren und anderen aufmunternden Spielchen rührend aufzumuntern, wirklich süß. Ein kleines bisschen hilft es auch. Im Kopf hämmert verzweifelt das Mantra: Bald, bald, bald … Mikis tapfere Versuche, mich trotz seiner eigenen Erschöpfung vor der Verzweiflung zu retten, treiben mir nur Tränen in die Augen. Aber einer seiner Sätze klebt jetzt in meinem Hirn: Egal! Das Ding ist doch gelaufen! We got it!
Dann endlich das Ziel am Alamo Dome!!!!!!!!!!! Ich laufe noch einmal so schnell ich kann, wir fassen uns an den Händen und reißen sie in die Luft. An der Ziellinie die Lautsprecher stimme: “And now arriving: Maikel and Bietie Ostermän from Germany!!“ Heul, schluchz! Die Medaille! Und in Eiswasser getauchte Tücher statt Wärmefolien. So fühlt sich Glück an!!!!