Extra-Shorty: São Paulo

Dass dies kein moderner, schneller, kurzer Reiseblog ist, dürften meine Leser längst gemerkt haben. Nun also einen Schritt weiter auf der Liste der Blog-No-Gos: ein Ein-Kapitel-Exkurs über eine Stadt, die mich immer wieder besonders fasziniert. Über meine Brasilienreise, in deren Verlauf ich auch in diesem Jahr wieder hierhergekommen bin,  werde ich mich ansonsten nicht ausführlich verbreiten, denn sie ist die x-te Wiederholung. Dennoch nun also einen Blog-Ehrenplatz für São Paulo.

São Paulo  ist wie eine Lawine, ein Tsunami, eine riesige Walze, die einen überrollt. Sie ist ein Monstrum. ein Moloch aus Stein. Sie macht Angst in vieler Hinsicht. Sie ist schmutzig, hässlich, brutal, aber voller Überraschungen und Widersprüche, unerwarteter Perlen, aufregender Geschichten, toller Menschen. Nie habe ich irgendwo so viele Hochhäuser gesehen, so aberwitzige Architektur, solche Verkehrsstaus. U-Bahn-Umsteigenahhöfe in der Größe von Stadtvierteln. Zweistöckige Autobahnen, jeweils achtspurig. Diese Stadt, so fühlt es sich an, ist in mehr als nur einer Hinsicht, außer Kontrolle. Man hat Angst, sie verschluckt einen. Aber sie lässt mich nicht los, sie fasziniert mich.

Die Stadt gehört zu den Super-Metropolen der Welt, mit offiziell gezählten zwölf Millionen Einwohnern, tatsächlich sollen es mehr als zwanzig Millionen sein.
Wie eine Krake hat sie sich knapp 800 Meter über dem Meer in die Berglandschaft gefressen, das natürliche Ufer des Flusses Tietê ist längst einem betonierten, begradigten Monsterkanal gewichen, der sich stinkend um die Innenstadt windet. Die natürlichen Täler und Wasserläufe sind zubetoniert, was zur Folge hat, dass die Stadt alle paar Tage im Chaos versinkt.

Die Paulistas, die Einwohner, sagen, in der Stadt gibt es jeden Tag vier Jahreszeiten: morgens den Frühling, mittags brütend heiß, am Nachmittag der Herbst mit Regen und auch manchmal Wind und abends dann wieder angenehme brasilianisch-winterliche Temperaturen. Da aber Regen hier nicht einfach Regen, sondern oft unglaubliche Wolkenbrüche bedeutet, ist die ganze Stadt alle paar Tage überschwemmt. Chaos total, der Verkehr bricht zusammen, der Tietê wird zum reißenden Strom in seinem tiefen Betonbett, die Kanaliation versagt, ich selbst habe schon Gully-Deckel auf Wasserfontänen in die Luft schießen sehen.

Diese Stadt ist so multikulturell, dass Berlin blass aussieht: europäisch, arabisch, japanisch, chinesisch, afrikanisch, jüdisch und lateinamerikanisch. Und das teilweise in eigenen Vierteln. Mal Parallelwelten, dann doch wieder wilder Mix. Große Teile des Stadtgebietes sind No-Go-Gebiete: riesige Favelas, wo die Gewalt nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist.´

In vielem kann erscheint dies hier als Blick in die Zukunft unserer wachsenden Urbaninsierung … In vielem eine beängstigende Vision. Trotzdem ist diese Stadt immer wieder faszinierend und hat auch charmante Seiten. Irgendwie erinnert sie mich auch an Berlin – nur alles zur Potenz genommen, und von allem der Superlativ, alles tausendmal größer, in Berlin ist alles klein und niedlich dagegen. Aber dennoch, für mich haben diese Städte auch Gemeinsames, so paradox das klingen mag. Auch das Offene, Tolerante, Verrückte, Schmuddelige. Vielleicht kommt daher mein unerklärliches Sich-nach-2Tagen-irgendwie-zu Hause-Fühlen…

„Mein“ jeweils bei den wiederkehrenden Kurzbesuchen selbstgewähltes Lebensumfeld befindet sich im Herzen der Stadt: Die benachbarten Viertel Conçolação und Vila Buarque. Ganz in der Nähe des zentralen Platzes Republica gelegen, sind sie weder stilvoll noch sauber, aber dennoch erinnern sie mich irgendwie ein wenig an Schöneberg und Kreuzberg in Berlin. Lebendig, bunt, weder schön, noch hässlich, weder arm noch reich.

Viele hässliche und andere weniger hässliche Hochhäuser, alte stuckverzierte Gebäude und neue klotzartige Bauten, hinter hohen Zäunen versteckte, vornehmere Wohnhäuser und direkt daneben kleine, einstöckige Bauten, die aus Zeiten der Kolonialgeschichte stammen. Ärmliche, unverputzte Hütten mit Wellblechdächern und schimmeligen Backsteinmauern, die sich in Freiflächen zwischen den Steinriesen verstecken.  Auch einige alte und schön anzuschauende Kirchen wie Sta. Cecilia oder die Paróquia Nossa Senhora da Conçolação lockern das Stadtbild auf, einige Museen, eine Universität, eine Filmakademie, Krankenhäuser, einen Friedhof, Parks und mindestens ein großes Kulturzentrum.
Aber was diese Nachbarschaft für mich so besonders macht, ist die Atmosphäre, andere nennen es: Energie, die hier über allem liegt. Hier wohnt ein bunt gemischtes Publikum, darunter Künstler, Studenten, Intellektuelle und viele Schwule. Irgendwie alle ganz normal und viele doch anders. Dazwischen vollkommen schräge Gestalten. Aber auch alte Leute, viele nicht weniger schräg, wie die Oma im Stretchrock und Tanktop, die gerade neben mir an der Ampel stand, mit schleifenverziertem Hündchen an der Leine. Und auch hier, wie überrall in dieser Stadt Heerscharen von Obdachlosen, die die Stunden am Tage für ein Schläfchen an der Kirchemauer oder unter dem Autonahnviadukt nutzen. Manchmal muss man aufpassen, um nicht auf eine dieser erschütternden Gestalten zu treten.

Wie fast überall in der Stadt, leben auch hier viele, die ein verdammt schäbiges Leben nur eben von Tag zu Tag führen. Vielleicht jeden Morgen mit einem schäbigen Köfferchen und klapprigen Wagen losziehen, um irgend etwas zu verkaufen. Auf selbstgebastelten Gefährten, die oft total morsch sind und mit Drähten und Schnüren zusammengehalten werden, entstehen an Straßenrändern und Plätzen oft unerwartet leckere Snacks von Grillspießen bis Küchlein, Tapiocacrepes, gegrilltem Käse usw. Angeboten wird alles, was vielleicht einen Käufer findet. Oft haben die Verkäufer nicht viel Auswahl – sie können keine großen Wareneinkäufe machen.

Wie fast überall in dieser Stadt gibt es unzählige, überwiegend billige Restaurants, wo sich die Nachbarschaft beim Essen oder einem Feierabendbier an den Plastiktischen auf dem Bürgersteig trifft. Nichts leichter als hier mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Fast alle sind freundlich, aufgeschlosssen und neugierig.

Außerdem bieten diese Viertel ein paar echte kulinarische Perlen, wie mein Lieblingsrestaurant, das Rota do Acarajé, ein baianisches Restaurant. Obwohl nicht ganz billig, ist es immer voll, vor allem Einheimische lieben dieses Restaurant, um sich abends mit Freunden zum Essen und Reden zu treffen. Gemütlich, eher klein, aber mit einer phantastischen Speisekarte, die alle Köstlichkeiten Bahias vereint, zum Teil traditionell, zum Teil phantasievoll veredelt. Nachteil: Ich verlasse diesen Ort jedesmal völlig überfressen….

Genug von meinen Lieblingsvierteln. Nach São Paulo kommen täglich tausende Menschen aus dem ganzen Bundesstaat zum Einkaufen. Egal was, in diser Satdt gibt es alles. Sie hat so unendlich viele Einkaufsstraßen und Shoppingcenter von Super-Nobel bis Billigschrott, dass hier nur eins genannt wird.

Zu den bekanntesten Örtlichkeiten der Stadt gehört die Rua 25. do Março. Eine der größten Einkaufsstraßen, die ich je gesehen habe, auch angesichts der Tatsache, dass sich die Handelskrake auch noch in sämtliche Neben- und Parallelstraßen gefressen hat. Also eher ein Geschäftsviertel mit dem Namen einer Straße. Hier gibt es alles, vom Straßenhändler mit Bauchladen bis zum Großhändler.
Wer zu ersten Mal hierher kommt, wird überlegen, ob er gleich wieder umkehrt oder sich in den gelebten Wahnsinn stürzt. Tausende Menschen drängen sich in den Straßen, der Lärm ist kaum auszuhalten. Drängen und schieben. Taschen festhalten, Augen auf….

In São Paulo ist es die meiste Zeit des Jahres tagsüber heiß. Die 25. do Março ist heisser! Die Luft brennt, schweißüberströmt schieben sich die Massen aneinander vorbei. Zwischen den Füßen der Passanten haben fliegende Händler auf dem Boden ihre Waren ausgebreitet,  und obwohl gar kein Platz bleibt, führen sie in der Masse kuriose Spielzeuge oder Sportgeräte vor. Aus den Türen der großen Läden, schallt Musik, brüllen Animateure die potentiellen Käufer mit Lautsprechern an. Die fliegenden Händler draußen machen genauso ihre Geschäfte auf dem blanken Asphalt  – so lange bis die Polizei in Mannschaftsstärke und schwer bewaffnet, auftaucht, dann geht eine Art La-Ola besonderer Art durch die Straße: Alle haben in Windeseile ihre Sachen zusammengeräumt und verschwinden für eine Viertelstunde. Unsichtbar. Dann geht das Ganze von vorn los.

Angeboten wird hier alles von Schmuck – echt oder unecht – Bekleidung, Schuhe, Haushaltswaren, Stoffe, Elektroartikel, Eisenwaren, Gewürze, Möbel, Eisenwaren  usw usw. Wenn es zu regnen beginnt – wie so oft, kann man kaum an die Stände und Läden mit Schirmen herankommen, sie werden von schiebenden, schupdenden, aufgeregten jungen Männern belagert, die so viele Regencapes kaufen, wie sie irgendwie bezahlen können, nur um sie Sekunden später laut schreiend an die Passanten auf der Straße weiterzuverkaufen: das für viele einzige Geschäft des Tages. Hier erfindet so mancher ständig ein Geschäft, um zu überleben.

Oft verbergen sich hinter einfachen Ladeneingängen schier endlose labyrinthartige Einkaufspassagen, die über mehrere Stockwerke verteilt hunderte von Ständen und kleinen Läden beherrbergen. Mal chinesisch dominiert, mal brasilianisch. Vorallem die erstgenannten Passagen bieten in jeder erdenklichen Qualität gefakte Markenartikel an.

Eher diskret verborgen hocken in den oberen Geschossen der 25, fern vom öffentlichen Einkaufsvolk, die echten Geschäftemacher, die Köpfe, die Großhändler und Importeure, Kredithaie.

Zwischen all dem finden sich unzählige Imbissbuden und Schnellrestaurants, die Brasilianer lieben ihre „Lanchonetes“, die leckere Snacks, frisch gemacht, frische Säfte, Kaffee und anderes mehr anbieten. Essen ist wichtig in diesem Land….was man auch an vielen stattlichen Körperumfängen sieht…

Eine ganz besondere Sehenswürdigkeit der 25. de Março, zu der sich auch gelegentlich vorallem einheimische Touristen durchkämpfen, ist die städtische Markthalle, der „Mercado Municipal“. Eine wunderbare alte Halle, gebaut 1928, in der es fast ausschließlich ums Essen und Trinken geht: Fleisch, Wurst, Weine, Nüssen, Gewürze – und vorallem: Früchte aus ganz Brasilien. Die verschiedenen Händler machen wahre Kunstwerke aus ihren Ständen, in denen all diese bunten, tropischen Köstlichkeiten mit zum Teil bizarren Formen aufgetürmt sind. Einfach wunderschön anzusehen. Auch Obstmuffeln wird hier das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und auf der Jagd nach Kunden werden den Flanierenden immer wieder mundgerechte Fruchtstückchen oder ganze kleine Obsttellerchen dargeboten, eine kulinarische Reise durch die Welt der Früchte.

Im hinteren Teil der Halle ist der mittleerweile erschöpfte und Obstangefütterte Passant dann reif für: eine Esspause. Etliche Stände mit kleinen Tischen bieten leckere frische Snacks oder komplette Gerichte von Pizza bis Pastel- eine besonders leckere brasilianische Spezialität: frittierte Teigtaschen mit verschiedensten Füllungen von Scampi, sonnengetrocknetem Rindfleisch, Käse, Huhn und mehr. Alles sehr lecker und ebenso sättigend….

Auch ein kleiner „Spaziergang“ durch dieses völlig wahnsinnige Viertel 25 de Março. ist  kaum unter zwei Stunden zu schaffen. Aber egal wie lange man schaut, sucht oder wühlt – hinterher ist man immer völlig erschlagen. Kleiner Tipp: ein paar Ecken höher in São Bento kann man sich in eins der feineren Cafés setzen und einen – für hiesige Verhältnisse teuren, aber leckeren – Eiscafé schlürfen und versuchen, das gerade Erlebte zu verarbeiten. Zum Thema Einkaufen, Handel und Wandel gäbe es noch unendlich viel zu erzählen, aber wie schon eingehend angekündigt, ist dies nur ein kurzes Best Of.

São Paulo hat auch viele sehr schöne oder nteressante Plätze zu bieten. Einer davon, mit der bekannteste, ist gleich ein paar Blocks weiter: die Praça da Sé. Ein besonders schöner, von hohen Palmen beschatteter Platz, an dessen oberem Ende die riesige Catedral Metropolitana thront. Der Platz liegt genau auf dem geografischen Mittelpunkt der Stadt. Vor allem am Nachmittag und Abend ist er auch Auftrittsort für allerlei Auftrittswillige: wütend das Wort des Herrn brüllende Bekehrer, Poeten, Musikgruppen aus dem Certao, dem Landesinneren, oder junge Musiker. Umgeben ist der Platz von Geschäften und billigen Restaurants. Ein sehr lebendiger und schattiger Platz in dieser heißen Stadt.

Andere Plätze, wie Praça da Luz oder República, bieten noch eine ganz besonders beeindruckende Spezialität dieser Stadt: wunderbare Parks, die oft ein Stück echten Urwald bewahrt haben. In dieser Beton-und Steinwüste erscheinen die immer wieder wie eine Fatamorgana. Grün, voller Blüten, oft Wasser, Vogelgezwitscher, Papageien, riesige alte Bäume und auch schon mal ein Faultier zwischen den Ästen. Einfach unglaublich schön! In keiner Stadt der Welt habe ich Vergleichbares gesehen.

Über São Paulo gäbe es noch unendlich viel zu erzählen, über die verschiedenen Viertel, die Märkte, das Nachtleben, die Kultur, die Architektur, den Carneval, die Kriminalität usw usw.  Die riesigen Buchläden, die so ganz anders sind als in Europa und ehrlich gesagt auch irgendwie völlig unerwartet, die alten Hinterhöfe mit einem lauschigen kleinen Café, die verrückten Typen, denen man begegnet, den toten Ratten auf den Straßen.

Aber adäquat dem kurzen Ausflug,den ich meist bei meinen Reisen nach Brasilien in diese Stadt mache, sind dies eben nur ein paar Notizen über São Paulo. Da ich schon früher oft in dieser Stadt war und eigentlich nie zweimal über eine Ecke der Welt schreibe, würde São Paulo sonst wohl keine Würdigung mehr in meinem Blog finden. Deshalb habe ich mich für dieses „besser so als gar nicht“ entschieden… Als Appetithäppchen.
Ansonsten: Wer kann, einfach mal hinfahren, sich drauf einlassen…..

 

 

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