Oha! Irgendwie wird das wohl diesmal gar nichts mit einer auch nur halbwegs chronologischen Berichterstattung. Nicht nur, dass ich selbst so chaotisch organisiert und verlangsamt bin wie meine derzeitige Umgebung, nein – es kommen auch noch dauernd unvorhergesehene Ereignisse wie Überschwemmungskatastrophen und Raubgeschichten dazu.
Aber ich habe es aufgegeben, mich über das Durcheinander in meinem einst so geordneten Blog aufzuregen, Ihr solltet es auch tun. Vielleicht vermittelt das ja sogar ein wenig mehr brasilianisches Lebensgefühl als die Texte allein…
Zur Sache: Ich habe hier in Boicucanga gleich zu Anfang unseres Aufenthaltes von einem Projekt erfahren, das mich sehr beeindruckt. Meine Freundin Corrin beteiligt sich tatkräftig und mit Sachspenden daran: Projeto Buscapé. Das geht auf die Initiative eines Militärpolizisten hier zurück. Seit 5 Jahren arbeiten sie mit Kindern aus den Favelas (den Armenvierteln), aus armen und problematischen Familien. Jeweils 140 Kids zwischen 7 und 14 Jahren. In zwei Schichten an jedem Wochentag erscheinen sie täglich und nehmen an Kursen teil: Kochen, Musik, Theater, Kunst, viel Sport, Drogenprävention etc pp. Und fast noch wichtiger als das ist, dass sie ein normales Sozialverhalten lernen: Ich bin ein respektabler Mensch, ich respektiere andere, Disziplin, Zusammenarbeit, Zuneigung, Umgangsformen, Selbstbewußtsein etc pp. Supersache!
Und da in mir wohl doch eine Menge Journalisten-Blut fließt, konnte ich nicht anders, als Material zu sammeln, Interviews und Fotos zu machen usw. Ich habe vorgestern den ganzen Tag dort verbracht und mangels anderen Handwerkszeugs die Interviews per Fotoapparat gemacht. Es war der wöchentliche Gastro-Tag mit zwei ziemlich bekannten Chefköchen aus Sao Paulo. Am Ende hat mich einer von ihnen, der immer im Projekt mitarbeitet, Eudes Assis, ein bisschen genervt, weil er mein ganzes Material auch auf seinen Rechner laden wollte. EigentIich wollte ich längst los, aber gut…
Endlich Feierabend! Es wurde fast schon dunkel. Miki hat mich abgeholt, verschwitzt und geschafft wie ich war. Ich wollte unbedingt noch mal ins Meer springen. Wir hatten das Auto von Corrin geliehen und sind nach Camburizinho gefahren, haben das Auto abgestellt und ca 10 Minuten schwimmen gegangen. Als wir zurückkamen: Überraschung! Die Beifahrertür stand auf, das Handschuhfach war ausgewühlt – und die Kamera weg! Zum Glück hatten die Diebe wohl keine Zeit, den Kofferraum zu durchwühlen, da lagen mein Computer und Mikis Brieftasche.
Ich war …ich weiß nicht was: sauer, wütend, resigniert – just pissed. Die ganze Arbeit! Unsere persönlichen Fotos der letzten Woche – alles weg, ganz abgesehen von der Kamera. Aber was soll´s, die hat gerade mal 150 Euro gekostet und wir während zehn Brasilien-Reisen noch nie beklaut worden. Es musste ja mal passieren, dachte ich. Später haben wir rekapituliert, dass Miki einen Fehler gemacht hat: er hatte per Schlüssel die Fahrertür geschlossen, in der Annahme, dass das ganze Auto verriegelt ist, wie bei den meisten Modellen…war aber nicht.
Aber der Verlust des Materials hat mich echt gewurmt: Wir also ins Auto gesprungen und in ein Hotel in Boicucanga gefahren, wo es immer Essen und freie Logie für die Buscapé-Gäste aus Sao Paulo gibt. Dir Chefin kennt mich und hat gleich die Militärpolizei angerufen und alles genau weitergegeben, wo wann wie usw. Aber ich wollte keine sinnlose Anzeige machen, ich wollte nur das Material. Eudes, der Koch, war meine letzte Hoffung, hatte er doch einiges heruntergeladen, aber er war nicht mehr da. Die Hotelchefin hat aber herausgefunden, dass er noch vor Ort in einem Internetcafé war. Wir sind also nass und klebrig wieder ins Auto und haben ihn tatsächlich gefunden! Er hatte aber seinen eigenen Computer bei Verwandten in Camburi gelassen, mitten in der tiefgrünen Pampa, wo´s weder Telefon noch Internet gibt. Zusammen sind wir dahin – und –Jaaaa! Das Material, selbst das bereits gelöschte, war noch zu retten. Es hat eine lange Stunde gedauert, es auf einen Stick zu speichern. Auf diese Weise sind wir Eudes und seiner superhübschen smarten Nichte Nicoli bei Bier und Kuchen nähergekommen – vielleicht wieder der Beginn einer echten Freundschaft. Ich war zufrieden. Sch…auf die Kamera!
Gestern nun hatten wir Besuch von Euro und Belen aus Sao Sebastiao. Gemeinerweise hat es den ganzen Tag geregnet. Nicht schlimm und schön warm dabei, aber eben kein Strandtag. Wir haben uns von Café zu Café geschleppt und wollten noch mal kurz schwimmen, bevor ich noch ein letztes Foto bei Judotraining der Buscapé-Kinder machen wollte – mit geliehener Kamera. Damit die nicht auch noch verschwindet, sind wir diesmal zu dem erwähnten Hotel gefahren, um dort zu baden ohne das Auto auf der Strasse zu lassen.
Wir haben unseren Augen nicht getraut, als wir ausstiegen, und Hotelchefin, Cabo William und ein Kollege fröhlich lachend unsere Kamera entgegenschwenkten!!!
Ich konnte es nicht glauben. Aber die Jungs haben das persönlich genommen: eine Journalistin, die über ihr Projekt schreiben will und der man die Fotos und Interviews klaut! Die haben sich echt ´reingehängt und die Überwachungs-Kameras der gut bewachten Condominiums in Camburizinho gecheckt. Tatsächlich waren vier räuberische Kids drauf, einer hat das Zeug aus dem Auto geklaut. Per Foto haben sie jetzt ihre Patroullien suchen lassen – und den vierzehnjährigen Delinquenten gefunden! Unglaublich!
Sie haben ihn in die Mangel genommen, er hat die Kamera rausgerückt (er war ohnehin gefrustet, weil das blöde Ding nur deutsch versteht…) und ihm mächtig Angst gemacht. Er hat wohl wirklich hart arbeitende Eltern, die bisher keine Ahnung von seinen kriminellen Neigungen haben. Sie haben ihm gesagt, dass es sein könnte, dass sie vor Schreck an einem Herzinfarkt sterben, wenn sie das erfahren – und im Wiederholungsfalle würden sie seine Eltern informieren. Er hat sich fast in die Hosen gemacht vor Angst. Ausserdem haben sie ihm erzählt, dass er leicht mal auf der Flucht erschossen werden könnte, wenn er bei sowas erwischt wird (was übrigens nicht ganz abwegig ist). Diese Vorgehensweise mag in europäischen Ohren seltsam klingen, erscheint mir aber unter den hiesigen Bedingungen durchaus angemessen.
So habe ich nun meine Kamera zurück, wenn auch alle Bilder gelöscht sind, ein neues brasilianisches Abenteuer erlebt, neue Freunde gefunden – und das Leben ist schön!