Acht Meter. Nur acht Meter. Endlose acht Meter. Das liegt ganz im Auge des Betrachters. Und in meinem Falle sind acht senkrechte Meter unendlich hoch, denn ich habe Höhenangst! Trotzdem will ich mich an einer riesigen Herausforderung versuchen: Zu den größten und spannendsten Attraktionen für Adrenalin-Junkies in Bonito gehört Abismo Anhumas ( Abgrund Anhumas).
Ungefähr anderthalb Autostunden entfernt in den Bergen ist 1972 durch einen Zufall auf der Kuppe eines Berges ein tiefes Loch entdeckt worden. Ein sehr tiefes, denn tatsächlich ist der Berg hohl und in seinem Inneren verbirgt sich eine Höhle, die an ihrer tiefsten Stelle über hundert Meter misst. Der untere Teil ist mit Wasser gefüllt. Diesen besonderen Abgrund können sportliche und mutige Menschen erobern.
Dafür muss man sich allerdings 72 Meter freischwebend abseilen – und natürlich später wieder am Seil hochziehen. Als Krönung darf unten im See geschnorchelt oder sogar getaucht werden, so man eine Tauchlizenz vorweisen kann. Mit dieser Aussicht kann man sogar mich dazu bringen, über eine Kampfansage an die Höhenangst ernsthaft nachzudenken. Denn ich bin ein echter Tauchjunkie.
Die andere Hälfte unseres kleinen Globetrotterteams ist vorallem scharf auf das Kletterabenteuer. Tauchen eher nicht – zu wenig Erfahrung, dann lieber Schnorcheln. So hat denn jeder seine eigene Motivation. Allerdings in meinem Falle stehen noch dicke Fragezeichen vor dem Abenteuer.
Alle Teilnehmer des Kletterabentuers müssen vorab ein Klettertraining absolvieren, wo sie nicht nur die Technik des Hochziehens und Abseilens lernen, sondern sich auch erweisen soll, ob sie das freie Schweben in der Höhe überhaupt ertragen und körperlich fit genug sind. Dafür gibt es eine Trainingsstätte, die besagte acht Meter hoch ist. Als ich die Halle sehe – unten Steinboden, oben Metallhaken, denke ich schlicht: Nö.
Aber wenn ich den Traum von diesem großen Abenteuer und dem Tauchen in der Höhle drangeben muss, dann wenigstens nicht kampflos. Also, schlotternd zum Test. Jeder bekommt einen Klettergurt mit allen möglichen Haken und Seilzügen umgeschnallt – und ich muss sagen: bequem ist anders. Angesichts der gequälten Minen der meisten Männer, wenn der Schritt dermaßen verschnürt ist, kann ich mir ein Grinsen allerdings nicht verkneifen. Sie haben also nicht nur mehr Muskeln, sondern auch verletzliche Weichteile…
Miki absolviert das Klettern nach ein paar anfänglichen Korrekturen locker. Ich klettere schweissgebadet wild entschlossen los: den Blick immer nach oben oder maximal geradeaus, niemals nach unten. Auf halber Strecke kann ich vor Stress kaum atmen, aber ich gebe nicht auf. Portugiesisch kann ich plötzlich auch nicht mehr, englisch stottern geht noch… Ich bekomme ein paar mal Anweisungen, wie ich effektiver klettern soll, aber was ist schon perfekte Körperhaltung, wenn man ums Überleben kämpft (zumindest fühlte es sich für mich so an) Egal – ich schaffe es, zweimal. Bis oben. Stolz!!!
Dann holt mich die schnöde Objektivität ein: Mein Trainer nimmt mich beiseite und sagt: Tja, das Abseilen war ok. Aber ehrlich: „You were not very good climbing up“. Pfff, der hat einfach keine Ahnung, was gut in meinem Falle heißt! Naja, aber vielleicht hat er ja recht damit, dass 72 Meter verdammt hoch sind, wenn man keine effektive Technik und noch dazu nicht gerade einen ausgeprägten Muskeltonus im Oberarm hat …. Ich habe jetzt schon Muskelkater.
Aber immerhin war ich gut genug, dass er befindet, man wolle mir aber trotzdem die Möglichkeit geben, mitzukommen. Das Angebot: alleine abseilen, hoch werde ich gezogen. Super! Das klingt gut in meinen Ohren! Denn ich habe keine Ahnung wie viel Panikattacken mich auf halber Höhe lähmen würden. Und das klingt nach einer echten Chance. Also unterschreiben wir den Vertrag – jetzt ist das Geld weg, wenn ich einen Rückzieher mache…
Danach werden wir zum Tauchcenter Bonito Scuba gebracht, um unsere Tauchanzüge anzuprobieren, die auch für die Schnorchler Pflicht sind, abgesehen von den Flossen. Wir wundern uns über die auffallend dicken Neoprenanzüge, aber nur bis wir erfahren, dass das Wasser da unten nur 18 Grad hat. Das ist kalt! Nach einem Abendessen ohne Caipi und Bier, da Alkohol ausdrücklich verboten ist am Abend vor der Tour, legen wir uns pünktlich auf´s Ohr.
Dumm nur, dass meine neue Entschlossenheit bei Nacht ganz anders aussieht. Stunde um Stunde wälze ich mich und wandere umher. Wie sieht das aus, wenn man in einen 72 Meter-Abgrung schaut und auch noch am Seil darüber hängt? Warum tue ich mir das an? Vielleicht sollte ich doch lieber absagen?! Irgendwann schlafe ich dann doch noch ein bisschen.
Aber als die Sonne aufgeht, bin ich wild entschlossen, nicht kampflos aufzugeben. Unsere taffe Fahrerin erzählt mir, sie habe sich das nicht getraut…Um kurz nach sieben kommen wir auf der bewaldeten Bergspitze an. Von einem Steg aus kann man aus ein paar Metern Entfernung schräg in das Lochs schauen. Ein enger Einstieg, danach knappe zehn Meter durch eine ziemlich enge Felsspalte mit unfreundlichen Kanten und Überhängen, dann ist nur noch weite Dunkelheit zu erkennen.
Wir werden wieder in alle Seile, Schnallen, Karabiner und Gurte verpackt, Handschuh, Helme und los geht’s. Abgeseilt wird immer zu zweit. Nach der engen Stelle sollen wir uns zueinander drehen und die Knie ineinander verschränken und uns möglichst parallel abseilen, damit wir uns gegenseitig stabilisieren und nicht ins Trudeln kommen.
Miki ist bester Laune und voller Unternehmungsgeist. Meine Panik, kurz vor dem Herzinfarkt zu stehen, wenn ich über das Loch geschoben werde, trifft erstaunlicher Weise nicht ein! Ich schaffe es sogar, für das Foto zu grinsen, das einer der Jungs mit unserem Handy macht. Nach den ersten schwierigen Metern mit Kopfeinziehen und vom Fels abstützen, schaffen wir es problemlos, in die richtige Position zu kommen und nun wage ich gar einen Blick in die Tiefe. Dunkelheit und irgendwo ganz unten türkises Glitzern! Es ist so surreal, dass ich es gar nicht wirklich realisiere. Ich finde es sogar toll! Ich sehe auch große Erleichterung im Gesicht meines freundlichen Abseilpartners aufblitzen, der wohl zurecht Angst vor einer hysterischen, heulenden Kletterpartnerin hatte. Und schon geht’s ab in die Tiefe! Zip!
Unten werden wir von starken Armen auf das kleine Deck gezogen, denn Baden sollen wir erst später… Erst als alle zehn Teilnehmer unten sind, geht’s weiter über einen Holzsteg auf´s zweite Deck. Es ist in bisschen wie die Kulisse in einem Abenteuerfilm: Trotz der Dunkelheit fast unnatürlich blau leuchtendes Wasser (dafür sorgt ein bestimmter Kalkstein), die hohe weite , fast runde Höhle, an deren Rand sich Felsen, Stalagmiten und Stalaktiten wie eine Heerschar von Fabelwesen drängeln. Und ganz weit oben ein kleines Loch, durch das gleißendes Tageslicht fällt.
Gar nicht so einfach, sich in dieser Enge und Dunkelheit die Kleider aus- und die Neoprenanzüge richtig anzuziehen! Dann geht’s für die Schnorchler los. Sieht von oben lustig aus, wie dieser Pulk zweibeiniger schwarzer Riesenfische mit Schnorcheln da im dunklen Wasser rumpaddelt!
Die Taucher – zunächst ganze zwei an der Zahl, bekommen ein kurzes und für meinen Geschmack zu knappes Briefing. Immerhin erfahre ich, dass die Tauchtiefe achtzehn Meter betragen wird, und die Attraktion die subaquatischen Sandsteinkegel sind, die es nur in drei Höhlen der Welt gibt. Der größte Kegel ist 29 Meter hoch. Wenn wir sicher genug schwimmen, dürfen wir sie umkreisen, aber auf keinen Fall berühren, da sie ganz weich sind und zerstört würden.
Ich habe schon etwas Erfahrung, auch im Nachttauchen, aber die andere junge Frau wirkt eher unsicher. Der Dive Guide nimmt´s locker. Er hat sie ausgebildet und will dicht bei ihr bleiben. Ausrüstung anlegen. Gut, dass ich darin ein gutes Training im letzten Jahr hatte, denn der vorgeschriebene Bodycheck ist auch wieder etwas schlampig.
Dann ist es endlich soweit: Abtauchen. Großartig, ich bin sofort in meinem Element als wäre ich gestern das letzte Mal unten gewesen. Aber was ist das – ich muss den Abstieg in die geheimnisvolle dunkle Welt stoppen, denn irgendwas stimmt bei der anderen Taucherin nicht. Der Guide ist bei ihr, sie tauchen wieder auf, wieder ein Tauchversuch, wieder hoch…nach drei Minuten bricht sie ab.
Wie ich später erfahre, hat sie den Druckausgleich nicht geschafft. Was??? Eine Open Water Diver-Lizenz und schafft keinen Druckausgleich?! Um Gottes Willen, was ist das für eine Tauchschule! Dafür ist dieser Sport wirklich zu gefährlich.
Aber immerhin habe ich jetzt den Guide für mich ganz allein und darf eine gute halbe Stunde in der Unterwasser-Wunderwelt der Höhle verbringen. Im Lichtkegel unserer Lampen wirken die Kegel wie ein Szenenbild aus einem Science Fiction Film. Großartig! Auch die Wände der Höhle sind schön anzusehen. Ich tauche das erste Mal mit einem so dicken Anzug mit Haube und finde das anfangs unangenehm, aber das ist alles sofort vergessen. Ich glaube „Fisch“ ist zurecht mein Sternbild. Glücklich klettere ich nach einer guten halben Stunde wieder aus dem Wasser.
Diesmal ist das Umziehen noch schwieriger, die nassen Anzüge kleben förmlich am Körper. Und in Brasilien darf man sich auch unter diesen Umständen auf keinen Fall einfach nackig machen- auch hier im Dunklen nicht. Also müssen wir auch noch nacheinander in eine mit Leder abgehängte winzige Ecke des Decks kriechen. Und das alle im Dustern!
Aber schließlich sind alle in trockenen Sachen zum Klettern. Zum ersten Mal wird mir jetzt klar, dass ich ja noch mal über meine große Angstschwelle muss, denn selbst wenn sie mich hochziehen – die Höhe und das freie Schweben am Seil bleibt. Doch bis dahin vergeht noch einige Zeit, denn wir sind fast als letzte an der Reihe. Und die meisten Paare brauchen eine ganze Weile für den Aufstieg. Ich soll allein ans Seil, Miki mit den letzten Guide zusammen.
Die anfänglich etwas muffeligen Jungs, die unsere Kletterguides sind, sind inzwischen aufgetaut und fragen uns nach Deutschland aus. Wir machen sogar noch eine Schlauchboot-Rundfahrt durch die Höhle mit fachkundigen Erklärungen, die ich allerdings nicht bis ins Letzte verstehe, so perfekt ist mein Portugiesisch denn doch noch nicht. Jedenfalls ist das alles bestens dazu angetan, dass meine Abseil-Tauch-Euphorie nicht nachlässt durch allzu viele Gedanken an den Freiflug nach oben.
Als wir an der Reihe sind, ist mir nur noch ein kleines bisschen mulmig. Schwupp, geht’s aufwärts, ich muss bloß das Seil richtig durch meine Füße laufen lassen und die Hände an den richtigen Stellen halten. Oben muss ich mich dann noch ohne größere Aufschläge durch die Felsende manövrieren – und Yeah! Ich habe es geschafft! Ich bin ein Sieger – zwar nur über mich selbst, aber manchmal ist das ja am schwierigsten.
Miki und sein Kletterpartner schaffen den Aufstieg als ältester Exkursionsteilnehmer in sensationellen neunzehn Minuten und nun ist auch er sein eigener Held. Es geht doch nichts über eine gelegentliche Überdosis an Selbstbewusstsein! Noch ein großartiger Tag in Mato Grosso do Sul geht zu Ende – mit viel Grund zum Feiern. Diesmal mit Caipirinha!