6. Die andere Seite

Dieser Tag wird anders. Es käme mir nicht richtig vor, bloß all die schönen Seiten von Kapstadt anzusehen und den Teil auszulassen, der für den größten Teil der Menschen hier ihr Leben bedeutet: die Townships. Zwar gibt es eine organisierte Township-Tour für Touristen, aber die geht nach Khayelitsha – dem Vorzeige-Township, dass eine gute Infrastruktur und eine gut vorbereitete „Sightseeing-Route“ hat. Und noch dazu möchte ich auf keinen Fall mit einer Gruppe dort auflaufen.

Aber Nathalie ist fit und sie macht ihren Volunteerjob etwas anders als die meisten ihrer Landsleute: sie redet viel mit ihren einheimischen Kollegen und Fahrern, auch über das Notwendigste hinaus, knüpft Kontakte , interessiert sich für die Leute und ist daher extrem beliebt. Und nur diesem Umstand haben wir es zu verdanken, dass sich zwei Mmenschen bereit erklären, uns drei mitzunehmen und zu führen, in eine der ärmesten Townships, in Philippi. Dort ist auch das Educare, wo Nathalie arbeitet, eine Art Mischung aus Kindertagesstätte und Schule.

Da der Fahrer, der uns eigentlich fahren wollte, nun doch nicht nicht in der Stadt ist, wollen wir mit Nathalis Co-Lehrerin Ncediswa im eigenen Auto fahren. Treffpunkt ist eine Bahnstation. Doch es kommt alles ganz anders, denn auf dem Weg dorthin gibt unser Auto nun endgültig den Geist auf – und das auf der Autobahn. Wir können es nur noch auf den Seitenstreifen schieben und uns vor dem vorbeirasenden Verkehr in Sicherheit bringen. Zum Glück passiert es gerade in keiner harten Nachbarschaft.

Was dann passiert, istAfrika pur: erst großes Chaos, dann geht irgendwie alles. Wir rufen die wartenden beiden Frauen an, die nehmen sich ein privates Uber-Taxi zu uns. Der smarte Taxifahrer versucht sich auch noch mal an unserer Schrottkiste – umsonst. Indess wird am anderen Ende der Stadt der Typ angerufen, der das Auto vermietet hat. Der organisiert einen Abschleppdienst, der auch tatsächlich nach einer halben Stunde auftaucht: Typ alter Hippie in einer verwirrend löchrigen Turnhose.

Inzwischen hat Ncediswa ihre Schwester alarmiert- schließlich haben wir kein Auto mehr. Die hat zufällig frei und lässt sich von ihrem Freund zu uns fahren und sammelt uns am Highway auf. Gemeinsam fahren wir nun den Freund ans andere Ende der Stadt zu seinem Dienst im Polizeirevier in einem anderen Township. Schließlich geht’s weiter, vorbei an ein paar anderen Townships, nach Philippi. Tag gerettet. Jetzt haben wir nicht nur eine in dem Township aufgewachsene Lehrerin als Führerin und Lebensversicherung, sondern auch noch ihre Schwester, die Polizistin ist. Alles ist möglich. Alles wird gut.

Schon der Weg nach Philippi hat uns über eine halbe Stunde lang nur an anderen Townships entlang geführt – das Elend neben der Straße legt sich wie eine giftige Wolke über die Welt. Philippi selbst besteht aus endlosen Straßenzügen mit vielen winzigen, überwiegend herunterkommenen Hütten und Häuschen. Das sind die besseren Behausungen. Die Bewohner konnten sie irgendwann mit den Mitteln aus verschiedenen Regierungsprogrammen bauen, sofern sie sich vorher die Parzelle leisten konnten. Aber viele haben solchen Luxus gar nicht, sondern zahlen dafür, dass sie auf ein paar Quadratmetern vor oder neben einem solchen Minihaus eine Blech-, Bretter- oder Lumpenhütte bewohnen dürfen. Die meisten Shacks, so heißen diese Hütten, sind so winzig, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass darin mehr als ein Mensch Platz findet. Manchmal sind es aber ganze Familien. Fast alles ist verrottet und kaputt und schmutzig, bis auf einige Straßenzüge, wo gerade die neuesten Häuschen vom letzten Förderprogramm gebaut wurden. Philippi ist riesig, keiner weiß, wie viele Menschen hier leben. Die meisten sind arbeitslos.

Das Educare, wo Nathalie arbeitet, unser erstes Ziel, ist in zwei aneinandergrenzenden Hütten untergebracht: ein kleiner muffiger Raum für die Babys und Kleinkinder, eine winzige, improvisierte Küche und ein ca 18 Quadratmeter großer, mit Blech gedeckter Raum für 30 Kinder: Klasse, Spiel- und Schlafzimmer. Der ausgehängte Speiseplan ist gruselig. Die „Outdoor Activities“ müssen sich auf einem handtuchgroßen Stück Erde am Eingang und einem 60 Zentimeter breiten und ca 8 Meter langen schmuddeligen Gang abspielen. Da kann man weder Ball noch Hopse spielen, da geht eigentlich nichts. Unterrichtsmaterial gibt es kaum.

Die Kinder sprechen kein Englisch nur Xhosa, eine lustige Sprache mit Klack- und Zischlauten, die sehr schwer zu sprechen ist. Keine leichte Aufgabe für die Freiwilligen aus Deutschland. Da ist Erfindungsgeist und nonverbale Kommunikation gefragt. Aber die Kinder lieben Nathalie, genau wie umgekehrt. Das ist nicht zu übersehen: aufgeregt stürzen immer wieder auf der Straße Zwerge auf sie zu und wollen sie gar nicht mehr aus ihren Umarmungen entlassen. Selten erhalten diese Kinder soviel Aufmerksamkeit und Liebe. Trotz der unfassbar ärmlichen Bedingungen in dieser Einrichtung werden diese Kinder hier beneidet: am Eingang draußen drängeln sich oft viele Kinder und blicken sehnsüchtig über den Zaun, sie wären so gern dabei.

Es gibt etliche solcher kleiner Zentren im Township. Viele sind gratis, der Staat gibt Zuschüsse. Aber für dieses Educare muss sogar bezahlt werden – aus einem absurden Grund: Es würde nur gefördert, wenn die Betreiber ein festes Haus hätten. Das Geld dafür wurde vor Jahren bewilligt und ist seitdem in der Administration verschwunden. 7-800 Euro würden für ein einfaches Haus reichen. Die hat aber keiner.

­Nathalie wird morgens normalerweise von einem Minibus direkt vor dem Center abgesetzt und darf offiziell das Grundstück aus Sicherheitsgründen nicht alleine verlassen ohne Security – so steht es in ihrem Vertrag. Viel zu gefährlich.

Dieses Township hat schwarze Bewohner. Dazu muss man erklären, dass die südafrikanische Bevölkerung in weiss, schwarz und farbig eingeteilt wird – white, black and colored. Die ärmsten sind meist die Schwarzen, aber die meisten Probleme mit Kriminalität, Gangs und Gewalt gibt es bei den colored people. Da laufen die Drogengeschäfte. Zum Glück gibt es aber nicht so viele Schusswaffen wie anderswo auf der Welt – die sind zu teuer. Aber Messer haben hier alle.

Philippi ist zwar eins der elendesten Townships, aber nicht unbedingt das gefährlichste. Trotzdem kann man sich als Weißer dort auf keinen Fall allein hinein wagen – und sei´s nur, weil man ausgeraubt würde. Oder auch schlimmeres. Wie unsere Begleiterinnen meinen, dürften wir wohl zu den ersten weißen Besuchern dort überhaupt gehören.

Aber in Begleitung unserer hier bekannten und offensichtlich respektierten Frauen erleben wir nur Neugier, Offenheit und Freundlichkeit. Vor allem die Kinder und Jugendlichen kichern, beobachten uns und winken. Aber auch der eine oder andere Erwachsene kommt und will uns die Hand geben. Durch Ncediswa und Nathalie kommen wir sogar in zwei der winzigen Häuser, wo Kinder aus dem Zentrum wohnen. Beide Male passt die Großmutter auf Enkelkinder unterschiedlichen Alters von ihren verschiedenen Kindern auf. Und das alles in winzigen Stuben, die aber sehr liebevoll, wenn auch ärmlich eingerichtet sind. In einem der Häuschen treffen wir vier Kinder, zwei Teenies und die Großmutter an, in einem Raum, den andere als Abstellkammer nutzen würden. Der kleine Couchtisch steht hochkant auf einem Sessel, damit sie alle in den Raum passen.

Aber alle lachen und sind freundlich, wenn auch natürlich etwas schüchtern uns gegenüber. Wir gehen noch eine Weile weiter durchs Viertel, bis unsere Begleiterinnen meinen, dass wir ein Stück weiterfahren sollten, da nun viele gesehen hätten, dass wir hier sind und ein Handy besitzen (wegen der Fotos, Geld haben wir kaum bei uns). Vielleicht könnten ja doch Einige auf dumme Gedanken kommen, meinen unsere Begleiterinnen. Wir fahren ein paar Straßenzüge weiter und trinken eine Cola in einer „Taverne“, einem als Kneipe dienenden Container mit vergitterter Verkaufstheke. Wirt und Gäste sind ganz erfreut über den ungewohnten Besuch.

Eigentlich lassen sich die Eindrücke gar nicht aufschreiben: Es ist einfach eine andere Welt, die sich niemand in Europa auch nur annähernd vorstellen kann. Dass Menschen ihr Leben unter solchen Bedingungen verbringen und es überhaupt ertragen, ist unfassbar. Ich glaube, ich möchte nie wieder das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ hören.

Die Privilegiertesten aus den Townships haben einen Job. Im anderen Kapstadt, dem weißen. Einige wenige von ihnen bringen es da sogar zu einem gewissen Reichtum. Davon zeugen die umzäunten, ansehnlichen Häuser, die wie Raumschiffe plötzlich mitten in diesen Vierteln stehen. Die gehören denen, die es geschafft haben. Vielleicht nicht so, dass sie hier wegziehen, andere wollen auch nicht weg aus ihrer Welt, aber diese beneideten Glückspilze haben ein richtiges Haus, ein Auto und man fragt sich, wie das eigentlich geht. Nur ganz wenige schaffen den Sprung ganz heraus aus den Townships.

Es gibt hier so vieles, was wir nicht verstehen und was auch dieser eine Ausflug und unsere Gespräche mit den beiden großartigen Frauen nicht klären können. Aber ich bin wirklich dankbar, dass ich hier sein konnte.

Zum Abschluss haben wir die Frauen zum Essen eingeladen. Wir fahren zum Busbahnhof zwischen zwei Townships – eine Lebensader, denn schließlich müssen die Menschen mit Job in den anderen Teil der Stadt kommen. Direkt daneben liegt die „Restaurantmeile“: Eine Reihe schwarzer, schmutziger, ziemlich furchtbar aussehender Stände aus Sperrmüll, vor denen aus alten Steinen, Metallteilen und rostigen Gittern gebaute Braais – Grills – stehen und vor sich hinqualmen. Vor einem Stand wird gerade ein Schaf geschlachtet. Die Luft hat einen strengen Geruch. Der Anblick ist …. deprimierend. Wie werden misstrauisch von tausend Augen beobachtet.

Die beiden Frauen gehen an einigen Ständen vorbei, an denen Hühner, Würste und Fleischstücken liegen und führen uns zu einem Stand, wo auf einer alten, wenig appetitlichen Holzplatte einen Berg Fleischteile liegt. Lammfleisch, frisch geschlachtet. Eine junge Frau soll mit einer Plastiktüte an einem Zweig die Fliegen verjagen, stattdessen starrt sie auf ihr Handy und die Fliegen surren fröhlich. Neben dem Stapel liegt ein grünschimmernder angetrockneter Haufen Eingeweide – auch zur Wahl. Das erste, was wir einwerfen ist: „Keine Innereien, bitte!“ .

Es wird kurz verhandelt, dann dürfen wir sagen, wie viele Stücke wir wollen. Eigentlich keine…. Aber aus der Nummer kommen wir nicht mehr `raus, und eigentlich wollen wir es ja auch nicht. Während unser Fleisch gegrillt wird, werden wir hinter den Stand gebeten, dahin, wo morgens immer das Lamm geschlachtet wird. Schmutz, Sperrmüll und ein wackeliger Tisch mit zwei schmierigen Plastikstühlen. Flugs werden noch drei weitere Stühle besorgt, der Tisch abgewischt und schon wird auf einem Stück Papier serviert.

Ich kämpfe noch mal kurz mit aufkommender Panik, leichtem Ekel und bösen Gedanken an Fleischvergiftungen, aber schon ist das Fleisch geschnitten. Wir bekommen einen alten Plastikeimer mit Spülwasser für die Hände hingestellt, denn Besteck gibt es nicht. Unsere Begleiterinnen greifen hungrig zu und so tun wir es ihnen gleich – und es schmeckt tatsächlich! Es gibt nichts dazu, nicht mal Brot. Den Rest bekommt ein Bettler.

Die dicke Standbesitzerin erkundigt sich, ob es schmeckt und ich muss nicht mal lügen. Ich sage ihr, dass sie jetzt damit werben kann, dass sie ein internationales Restaurant betreibt. Das findet sie super!

Irgendwie ist das alles real und unwirklich zugleich. Eine Reise zum Mars könnte nicht weiter von unserer Lebenswelt entfernt sein. Auf dem Rückweg fahren wir am Ende der Townships an weitläufigen, grünen Farmen vorbei. Hier dürfen Schwarze arbeiten. Manchmal kommen sie auch, um etwas zu essen zu stehlen, wenn der Hunger groß genug ist.  Der weiße Besitzer hat sich tatsächlich mittendrin eine riesige millionenschwere Farmvilla gebaut, nur einen Steinwurf von den Shacks seiner Arbeiter entfernt. Viel anders sah es in Zeiten der Sklaverei auch nicht aus.

Die beiden Frauen fahren uns bis nach Hause und wir reden noch viel unterwegs. Der Tag im Township hat das Puzzle komplettiert, das so langsam ein Bild von Kapstadt ergibt, der Stadt mit den vielen Brüchen: faszinierend, schön, irritierend, erschreckend und aufregend. Die Apartheid ist vorbei, die Apartheid wird noch lange weiterleben.

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